Wie meine Träume nach dir schrein.
Wir sind uns mühsam fremd geworden,
jetzt will es mir die Seele morden,
dies arme, bange Einsamsein.

Kein Hoffen, das die Segel bauscht.
Nur diese weite, weiße Stille,
in die mein tatenloser Wille
in atemlosem Bangen lauscht.

- 1897 -

Mitte aller Mitten, Kern der Kerne,
Mandel, die sich einschließt und versüßt, -
dieses Alles bis an alle Sterne
ist dein Fruchtfleisch: Sei gegrüßt.

Sieh, du fühlst, wie nichts mehr an dir hängt;
im Unendlichen ist deine Schale,
und dort steht der starke Saft und drängt.
Und von außen hilft ihm ein Gestrahle,

denn ganz oben werden deine Sonnen
voll und glühend umgedreht.
Doch in dir ist schon begonnen,
was die Sonnen übersteht.

Rainer Maria Rilke

Überfließende Himmel verschwendeter Sterne
prachten über der Kümmernis. Statt in die Kissen,
weine hinauf. Hier, an dem weinenden schon,
an dem endenden Antlitz,
um sich greifend, beginnt der hin-
reißende Weltraum. Wer unterbricht,
wenn du dort hin drängst,
die Strömung? Keiner. Es sei denn,
dass du plötzlich ringst mit der gewaltigen Richtung
jener Gestirne nach dir. Atme.
Atme das Dunkel der Erde und wieder
aufschau!       Wieder.       Leicht und gesichtslos
lehnt sich von oben Tiefe dir an. Das gelöste
nachtenthaltne Gesicht giebt dem deinigen Raum.
Rainer Maria Rilke, April 1913, Paris
Gedichte an die Nacht

Kunst-Werke sind von einer unendlichen Einsamkeit
und mit nichts so wenig erreichbar als mit Kritik.
Nur Liebe kann sie erfassen und halten und
kann gerecht sein gegen sie.

Rainer Maria Rilke

I.

So schweige nun. Auch ich will schweigen, denn
wo wäre irgend Rede diesem Schweben?
Schon hast Du ja dem leise neigenden
fühlenden Winde fühlend nachgegeben.

Befürchte nichts, er wird nie wilder sein;
doch, da uns Kräfte rätselhaft umkreisen,
schließt sich um uns ein Kreis: Gewalt ist ein
Entschlossenstes im Stärksten wie im Leisen.

2

Ob ich regnen kann, ich weiß es nicht,
über Dir Du sanfteste der Matten.
Vielleicht bin ich nur der Wolkenschatten,
der Dein Glühendliegen unterbricht.

Bin der Wind, der diese Wolke treibt,
bin ihr leicht verwandeltes Volumen,
bin die Macht, die Deinen klaren Blumen
schattige Verhaltung einverleibt.

3

Stille, wehende Wiese,
was Du auch je verlörst -,
wisse die Paradiese,
denen Du zugehörst.

Fühle die kühleren Haine,
die Dich umgeben rings,
und bestärke das reine
Schwanken des Schmetterlings.

4

Ja: jedes Bild ist Mauer. Laß uns ohne
daß wir ein Bild bemühn, vertrauter sein.
Ich denke zärtlich nur, wie ich Dich schone -,
Du aber winde eine Blumenkrone
und wirf sie in den nächsten Bach hinein.

Nichts ist verloren, alles giebt sich weiter.
Verschwende an den unbekannten Freund
die Freude Deiner täglichen Begleiter
und alles, was Dich heimlich macht und heiter,
bis zu der Luft, die Dir die Hände bräunt.

5

Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,
wird das Erwarten selber zur Vollendung;
da geben sich die Fernen ohne Blendung -
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.

Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,
erscheinen diese Perlen lang getragen,
obwohl sie gestern noch im Meere lagen -
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.

Vielleicht vom Abendsonnenschein belebt,

sind wir die Gleichen und die immer Neuen -,
und doch ist dieses Freuen unser Freuen,
vielleicht vom Abendsonnenschein belebt.
6

Daß uns das Sternbild nicht fehl,
halten wir uns am Entlegnen;
wo sie dem Schicksal begegnen,
machen die Sterne kein Hehl

aus ihrer Neigung, zu regeln,
was sich in ihnen gewahrt -,
über den wagendsten Segeln
stehn sie als Zeichen der Fahrt.

Welche Dein werbender Bogen
Dir auch gewinnen mag:
fühle Dich einbezogen,
stärke die Sterne bei Tag.

7

(Daß sie Dir einmal entgelten,
tief in die Nächte gepflanzt,
daß Du zu älteren Welten
mit vergänglichem Herzen standst!)

Aus: Die Gedichte 1922 bis 1926 (
Briefwechsel in Gedichten zwischen Rainer Maria Rilke und Erika Mitterer, aus der sechsten Antwort, Ragaz, 21./ 22.  Juli 1924)

Und wenn uns eines Tages dieses Tun
und was an uns geschieht gering erschiene
und uns so fremd, als ob es nicht verdiene,
daß wir so mühsam aus den Kinderschuhn
um seinetwillen wachsen -: Ob die Bahn
vergilbter Spitze, diese dichtgefügte
blumige Spitzenbahn, dann nicht genügte,
uns hier zu halten? Sieh: sie ward getan.

Ein Leben ward vielleicht verschmäht, wer weiß?
Ein Glück war da und wurde hingegeben,
und endlich wurde doch, um jeden Preis,
dies Ding daraus, nicht leichter als das Leben
und doch vollendet und so schön als sei's
nicht mehr zu früh, zu lächeln und zu schweben.


Rainer Maria Rilke - Neue Gedichte (1907)
Brau uns den Zauber, in dem die Grenzen sich lösen,
immer zum Feuer gebeugter Geist!
Diese, vor allem, heimliche Grenze des Bösen,
die auch den Ruhenden, der sich nicht rührte, umkreist.

Löse mit einigen Tropfen das Engende jener
Grenze der Zeiten, die uns belügt;
denn wie tief ist in uns der Tag der Athener
und der ägyptische Gott oder Vogel gefügt.

Ruhe nicht eher, bis auch der Rand der Geschlechter,
der sich sinnlos verringenden, schmolz.
Öffne die Kindheit und die Schoße gerechter

--- gebender Mütter, daß sie, Beschämer der Leere,
unbeirrt durch das hindernde Holz
künftige Ströme gebären, Vermehrer der Meere.

Mehr nicht sollst du wissen als die Stele
und im reinen Stein das milde Bild:
beinah heiter, nur so leicht, als fehle
ihr die Mühe, die auf Erden gilt.

Mehr nicht sollst du fühlen als die reine
Richtung im unendlichen Entzug -
ach, vielleicht das Kaltsein jener Steine,
die sie manchmal abends trug.

Aber sonst sei dir die Tröstung teuer,
die du im Gewohntesten erkennst.
Wind ist Trost, und Tröstung ist das Feuer.

Hier- und Dortsein, dich ergreife beides
seltsam ohne Unterschied. Du trennst  
sonst das Weißsein von dem Weiß des Kleides.
Rainer Maria Rilke

Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? -

Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt -

Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; -
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.
Rainer Maria Rilke